Am 15. Februar 2024 nahm Eduard C. Groen, Projektmitarbeiter in D’accord, am IREB-Roundtable „Elevating Requirements Engineering through Quality Models“ teil.  Neben Groen waren zwei weitere namhafte Personen dieses Fachgebiets zu der Podiumsdiskussion eingeladen: Andrea Wohlgemuth, Software Strategy Consultant bei der Swisslog GmbH, und Prof. Martin Glinz, Professor emeritus an der Universität Zürich und Vorsitzender des IREB Council. Moderiert wurde der Roundtable von IREB-Geschäftsführer Stan Bühne. Die Hauptfrage lautete: „Was sind Qualitätsmodelle und wie können wir sie im Requirements Engineering (RE) anwenden?“ Bei der Podiumsdiskussion waren etwa 40 Zuhörende live zugeschaltet. Die vollständige Aufzeichnung ist online auf YouTube verfügbar. Im Folgenden sind die wichtigsten Beiträge der Diskussion zusammengefasst:

Welche Vorteile bieten Qualitätsmodelle in der Praxis?

Die Qualität bestimmt, wie gut ein Produkt wie z. B. Software (a) die gestellten Anforderungen durch Systemmerkmale erfüllt und (b) die Bedürfnisse der Stakeholder erfüllt. Ein Qualitätsmodell ist nach Glinz „eine strukturierte Sammlung Merkmale und Teilmerkmale, die zusammen die Qualität einer Entität (ein System, ein Produkt, ein Dienst, …) umfasst“. In der Praxis wurden folgende Vorteile von Qualitätsmodellen für die Industrie erkannt:

  • Sie steigern die Sichtbarkeit der Qualitätsaspekte für alle Projektmitglieder, indem man diese Aspekte explizit benennt und berücksichtigt. Der Fokus liegt derzeit häufig auf der Funktionalität und es ist wichtig, dass der Fokus auch auf andere Qualitätsaspekte gerichtet wird.
  • Sie ermöglichen es, eine Priorisierung vorzunehmen, sodass auf die wichtigsten Qualitätsmerkmale fokussiert werden kann.
  • Sie unterstützen die Ableitung guter Qualitätsanforderungen, was wichtig ist, da diese in manchen Domänen verbindliche Vertragsaspekte bilden, für deren Erfüllung der Auftragnehmer haftet, und sie bei bei kritischen Infrastrukturen häufig einen enormen Impact auf die Umwelt und die Gesellschaft haben.
  • Sie stellen die Vollständigkeit der abgedeckten Qualitäten sicher.
  • Sie bieten eine logische Struktur für die Dokumentation von Qualitätsanforderungen in einer Spezifikation.

Warum werden Qualitätsmodelle in der Praxis trotzdem kaum benutzt?

Trotz der Vorteile finden Qualitätsmodelle kaum Anwendung in der Industrie. Eine Umfrage bei den Zuhörenden bestätigte dies: Nur ein Drittel sieht einen Mehrwert in der Benutzung von Qualitätsmodellen und nur 5% waren der Meinung, dass die Qualitätsmodelle ihre Bedürfnisse erfüllen. Das führt dazu, dass Praktiker*innen Schwierigkeiten haben, die für ihre Zwecke geeigneten Qualitätsmodelle zu finden.

Dass hierdurch in vielen Unternehmen gar kein Qualitätsmodell verwendet wird, stellt ein großes Problem dar. Besser wäre es, ein Qualitätsmodell zumindest ansatzweise zu verwenden; sogar das schafft ein gemeinsames Verständnis und bietet bereits Halt, Struktur und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Branchen mit verbreiteten Industriestandards (z. B. Automotive SPICE) zeigen, dass Erfahrungen mit Qualitätsmodellen große Mehrwerte bieten.

Welche Probleme gibt es bei existierenden Qualitätsmodelle, insbesondere für die Praxis?

Die etablierten Qualitätsmodelle haben gute Dienste geleistet, sind aber oft nicht mehr zeitgemäß, zudem praktisch schwer anwendbar. Beispielsweise wurde die ISO-Norm 25010:2011 gegenüber dem Vorgängerstandard von 1991 nur minimal geändert und das Aktualisierungskonzept von 2022 bringt dahingehend keine Veränderung – obwohl sich das Anwendungsfeld kontinuierlich ändert und die Qualitätsmodelle darauf angepasst werden müssten. Die größten Trends sind:

  • Unternehmen haben ein höheres Bedürfnis an Qualitätsmodellen, um die Qualitäten immer komplexer werdender Systeme (wie Metaverse, digitale Zwillinge, digitale Ökosysteme, Systems-of-Systems, Internet-of-Things usw.) abzubilden. Diese Systeme besitzen starke Abhängigkeiten von ihrem Kontext, im Sinne von Organisationen, Prozesse und ausgetauschten Daten.
  • Der gesellschaftliche Wandel und neue Regulatorik fordern die Erfüllung „weicher“, querschnittlicher und emergenter Qualitäten wie z. B. Nachhaltigkeit, Erklärbarkeit, Werte von Einzelpersonen und Organisationen, Privatheit und Sicherheit.

Wichtige Probleme sind u. a., dass viele wichtige Qualitätsmerkmale fehlen und dass die Unterscheidungen zwischen Qualitätsmerkmalen – und somit auch eine saubere Trennung der Qualitätsanforderungen – häufig problematisch ist. Existierende Qualitätsmerkmale werden nicht obsolet, sondern es kommen durch die zunehmende Komplexität ständig weitere Qualitätsmerkmale dazu, was die Standards allerdings nicht berücksichtigen.

Was zeichnet ein gutes Qualitätsmodell aus?

Wie andere Modelle abstrahieren Qualitätsmodelle die Realität und sind dadurch inhärent mehrdeutig. Dennoch besitzt ein gutes Qualitätsmodell verschiedene Merkmale, um die Anwender*innen möglichst gut anzuleiten:

  • Es bietet ausreichende Unterstützung für die Phasen des RE.
  • Es enthält Definitionen aller (Teil-)Merkmale.
  • Es benutzt eine konsistente Terminologie.
  • Es stellt Schablonen (Dokumenten und Satzmuster) für die Dokumentation der Qualitäten bereit.
  • Es beschreibt Messverfahren für die Bestimmung der Erfüllung der Qualität.
  • Es liefert Empfehlungen und Beispiele für seine Anwendung.

Wie maßschneidert man ein Qualitätsmodell auf den eigenen Anwendungskontext?

Eine Empfehlung ist, sich die Zeit zu gönnen, existierende Veröffentlichungen zu betrachten und sie gegebenenfalls als Inspiration für ein intern entwickeltes Modell zu nehmen. Sogar ein alter und überholter Standard wie MIL-STD-498 enthält eine sehr praktische und umfassende Liste von relevanten Aspekten. Welche Aspekte relevant sind, hängt von den Bedarfen des spezifischen Unternehmenskontexts ab, denn die wichtigsten Qualitätsmerkmale sind für verschiedene Domänen unterschiedlich. Diese Arbeit kann von einer Person innerhalb der Organisation durchgeführt werden, aber auch organisationsübergreifend von einer Interessensgruppe. Die initiale Investition zahlt sich durch die erreichten Verbesserungen in der Regel aus.

Wie führt man ein Qualitätsmodell in der Praxis ein?

Die Einführung eines Qualitätsmodells ist ein Veränderungsprozess, den man nicht unterschätzen sollte, der aber für alle internen Stakeholder einen Mehrwert bieten kann. Je nachdem, wie intensiv man ein Qualitätsmodell verwenden möchte, lohnt es sich, dieses schrittweise in verschiedenen Reifegraden einzuführen:

  1. (Basis) Verwendung einer Checkliste mit Qualitätskriterien für die Erhebung bzw. Validierung von Qualitätsanforderungen, gegebenenfalls erweitert um eine Dokumentenstruktur.
  2. Abgestimmte Modelle von Qualitäten und deren Definitionen für die verbesserte Kommunikation zwischen Projektmitgliedern und Stakeholdern, einschließlich passender Hilfestellungen.
  3. Ansätze für die Dokumentation und Messung der Qualitätsanforderungen mit Kapitelstrukturen, Schablonen und Messverfahren.
  4. Verwendung eines adaptiven Modells, das Qualitäten auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft und neue Qualitäten nach Notwendigkeit mit aufnimmt.

Was wird gemacht, um die Probleme mit Qualitätsmodellen zu lösen?

Verschiedene Initiativen der Beteiligten, inklusive des IREB und des D’accord-Projekts, arbeiten an Lösungsvorschlägen für zeitgemäße Qualitätsmodelle. Wichtig ist, dass die Verwendung von Qualitäten für Anfänger*innen einfach und verständlich genug gehalten wird, aber zugleich ausreichend Tiefe für Expertinnen bietet. Zudem müssen Qualitätsmodelle in einem Format bereitgestellt werden, das für Praktiker*innen leicht umsetzbar ist.

Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass ein standardisiertes Modell einerseits nicht alle wichtigen Aspekte berücksichtigt und andererseits zu umfassend wird, während ein allgemeingültiges Modell für spezifische Anwendungen inadäquat ist. Das IREB hat einen ersten Aufschlag für ein beliebig anpassbares und erweiterbares Qualitätsmodell mit einem unveränderbaren Kern entwickelt und ist diesbezüglich mit dem D’accord-Projekt im Austausch. Dieser Ansatz hilft sowohl der Industrie, die etwas benötigt, das praktikabel ist, als auch der Forschung, die empirisch valide Strukturen benötigt. Die Forschung kann außerdem der Industrie helfen, indem sie sich ausführlicher mit deren Fragestellungen auseinandersetzt und ihre Erkenntnisse in die Praxis bringt. Das IREB wird demnächst über eine Umfrage die Bedarfe aus der Industrie erfassen.

Es gibt jedenfalls Hoffnung: Die Umfrage am Ende des Roundtables ergab, dass fast alle Teilnehmer*innen (93%) davon überzeugt sind, dass ein Qualitätsmodell für ihr Umfeld relevant sein könnte – gegenüber 33% am Anfang des Roundtables.

D’accord und Qualität
Wie bereits im Vorgängerprojekt TrUSD erarbeitet Groen in D’accord seit mehreren Jahren gemeinsam mit anderen Projektmitgliedern ein Qualitätsmodell samt Kriterienkatalog. Die aus diesen Arbeiten gewonnenen Erkenntnisse ließ er in die Podiumsdiskussion einfließen, wie auch seine vorherigen Erfahrungen als praktizierender Qualitätsmanager und Forscher zu Qualitätsmodelle für komplexe Systeme. Eine Vorläuferversion des ganzheitlichen Qualitätsmodells wurde 2021 unter dem Titel „Qualitätsmodell zur Förderung des Beschäftigtendatenschutzes“ veröffentlicht.

Über IREB
Das International Requirements Engineering Board, Karlsruhe, ist eine Non-Profit-Organisation und entwickelt das Zertifizierungskonzept CPRE (Certified Professional for Requirements Engineering). Die Board-Mitglieder sind unabhängige und international anerkannte Experten aus Industrie, Beratung, Forschung und Lehre. Sie haben sich 2006 mit der Vision zusammengeschlossen, Requirements Engineering auf ein professionelles Fundament zu stellen, um dieser Disziplin den Stellenwert und die Ausprägung zu geben, die ihrem Mehrwert für die Industrie entspricht. Das IREB ist heute zum weltweit anerkannten Expertengremium für die Personenzertifizierung von Fachkräften im Requirements Engineering geworden.


Nachlese – D’accord bei der IREB-Podiumsdiskussion zu Qualitätsmodellen